Reisebericht Nordindien: Auf den Spuren des Buddha
Eine Pilgerreise zu den Heiligen Stätten des Buddhismus
24. Oktober – 8. November 2015
Das Ziel der Reise
Vor zweieinhalbtausend Jahren lebte im nördlichen Indien ein großer Lehrer. Er hatte nach intensiven Bemühungen einen Weg gefunden, wie das Leid überwunden werden kann, das jedem menschlichen Dasein aufgegeben ist. Der Name dieses Lehrers ist bekannt. Doch bis heute nennt ihn alle Welt nur „Buddha“, den Erwachten. Überall ist sein Ruf verbreitet. Also machen auch wir uns auf, um die Gegend zu erkunden, in der dieser Buddha lebte – vielleicht aus Neugier; vielleicht auch, um ihn und seine Lehre von den Ursprüngen her besser zu verstehen. Aber wer sind wir?
Die Reisegruppe
Wir – das waren zunächst einmal nur neun Individuen von ganz unterschiedlicher Herkunft. Gemeinsam waren uns lediglich die Ausrichtung auf das Reiseziel und der weite Weg dorthin. Wir – das waren im Einzelnen:
- eine Reiseleiterin Minka Hauschild, die sich als höchst kompetent und engagiert erweisen sollte;
- eine junge Frau, die ohne weitere Kenntnisse von Buddha gehört hatte;
- eine Frau in mittleren Jahren, die unterwegs war, um ihr Leben neu zu ordnen;
- drei Herren, die sich schon lange und intensiv mit dem Buddha befasst und auf ihn eingelassen hatten;
- dazu ein alter Soldat, der sich ausschließlich auf die ursprüngliche Lehre des Buddha konzentrierte;
- und schließlich ein Kamerad mit Kamera, der mit dieser unentwegt, Tag und Nacht unterwegs war.
- Aber einer fehlte noch. Er sollte erst in Bodh Gaya, dem Ort der Erleuchtung des Buddha, zu uns finden.
Jigme
Im Jahr 2003 wurde ein kleiner Junge im Alter von sechs Jahren aus Tibet über die hohen und verschneiten Pässe des Himalaya nach Dharamsala in Indien gebracht, wo der Dalai Lama wohnt. Dort lebte er zusammen mit 3000 Mädchen und Jungen in einem SOS-Kinderdorf und wuchs heran. Von Anfang an hatte ich die Patenschaft für dieses Kind übernommen. Wir hatten uns viele Briefe geschrieben und stets auch Fotos und Zeichnungen beigelegt.
Nun endlich wollte ich ihn auch sehen und so hatte ich ihn zu dieser Reise eingeladen. Ich war gespannt, seine Stimme zu hören und sein Gitarrenspiel, das er angekündigt hatte. Außerdem wollte er sein Skizzenbuch mit sich führen. Aber – würde er uns auch finden? Zur vereinbarten Zeit erscheint er, die Gitarre geschultert, im Eingang des Hotels. Es kommt zu einer wunderbaren Begegnung. Wunderbar – das sollte unser gemeinsames Lieblingswort werden.
Jigme ist „well educated“, gebildet, er hat Humor und ist künstlerisch wirklich begabt. Mit seiner Gitarre und seinen Liedern spielt er sich in die Herzen der Gruppe. Und wenn wir den deutschsprachigen Erläuterungen unserer Reiseleiterin lauschen, übersetze ich – oder er zieht sein Skizzenbuch hervor und zeichnet. Wir waren verblüfft über sein Talent. Nur wenige Tage sind uns vergönnt, in denen wir Gespräche führen, ein Zimmer teilen, lachen und auch weinen. Er singt und spielt und zeichnet für sich und für mich und dann auch für die Gruppe und er wird mir lieb wie ein eigener Sohn. Die Begegnung wird für uns beide zu einer reichen Erfahrung und wir werden sie vertiefen. Um seine Zukunft muss ich mir keine Sorgen machen.
Nipponji
Frühmorgens, Jigme schläft noch, überquere ich die Straße vor unserem Hotel. Auf der anderen Seite liegt ein Park mit einigen Schatten spendenden Bäumen. Auch eine kleine Hundeschar lebt dort. Mein Ziel aber ist der Tempel der japanischen Gemeinde. Darin thront eine Buddha-Figur in einer mattgoldfarbenen Höhle. Gegen sieben Uhr erreicht das Licht der Sonne sein noch jugendliches Gesicht, das tiefe Versenkung und Erhabenheit ausstrahlt.
Ich lasse mich auf dem Boden nieder. Da sitze ich also, erfüllt und eingefasst in eine Beziehung, die alle Maße sprengt. Es ist still. Hin und wieder ein Vogel draußen, ein Kinderlachen... Von Zeit zu Zeit stehe ich auf und gehe in langsamem Zen-Schritt die Wände der Tempelhalle entlang. Der Marmorboden gibt eine wohltuende Kühlung auf die bloßen Füße ab.
Täglich suche ich den Tempel auf. Am dritten oder vierten Tag schlendern mir die Hunde entgegen und begrüßen mich freundlich. Die Köter, die die Nacht verbellen, sind ganz bestimmt andere!
Der Ort der Erleuchtung
Bodh Gaya ist ein quirliges Städtchen. Überaus viele Menschen bevölkern die Straßen und Gassen. An einem Platz hat sich eine Blindenkapelle auf dem Boden niedergelassen und versucht, den Sound der Stadt zu übertönen.
Im Zentrum steht der hohe Turm eines Stupa an einem Ableger jenes Baums, unter dem der Shakyamuni zum Buddha, zum Erwachten wurde.
In und um dieses Zentrum ist es, wiewohl verkehrsberuhigt, nicht viel stiller. Zahlreiche Pilger, Gruppen und Einzelne, sind aus allen Buddha-Ländern herbei gekommen und praktizieren ihre Rituale: sitzend, stehend, schreitend – gemeinsam ist allen nur, dass sie keine Schuhe tragen. Alle Rezitationen und Gesänge sind dem Erhabenen gewidmet.
Irgendwo, auf seine Weise versunken, sitzt Jigme und zeichnet.
Um den Ort der Erleuchtung herum verlaufen konzentrisch angeordnete, verschieden hohe Ebenen. Dort kann ebenfalls praktiziert werden. Einen kleinen Teich gibt es, eine Butterlampenhalle... Auf einem Eckfeld werden Niederwerfungen praktiziert, viele Male. Was in den Übenden dabei vorgeht, ist nicht einsehbar.
Die einsetzende Nacht wirft ihre Lichter und Schatten auf die Gesichter. Auch ich schreite, sitze, schaue. Kein Gedanke stellt sich mehr ein, da ist nur noch Wahrnehmung. Still ist es hier nicht. Also irgendwie eher lebhaft heilig.
Spurensuche
Der hauslose Wandermönch ist weit herum gekommen. Wir können es nicht wirklich nachvollziehen, denn das Auto erspart uns die Mühe des Wanderns in der Hitze, ohne Schuh und Sonnenschutz.
Zuerst besuchen wir den berühmten Geierberg nahe der Ortschaft Rajgir. Hier ereignete sich Entscheidendes, hier ging es mit der neuen Bewegung so richtig los. Bedeutende Mönche wie Ananda und Sariputra schlossen sich an. Ordensregeln wurden gebildet und eine neue Ethik, die Silas. Hier war es auch, wo der bereits 70-jährige Buddha von seinem Cousin Devadatta angefeindet wurde, der die Führung über die neue Bewegung an sich reißen wollte.
Heute gibt es da eine Seilbahn, die wiederum ein Kletterparadies für lustig-wilde Affen ist. Buntbemalte Holzkabinen bringen uns einzeln auf den Gipfel des grünbewaldeten Berges. Es gibt dort einen Weltfriedens-Stupa aus Japan, ganz in Weiß und etwas üppig ausgefallen. Das Eigentliche dieses Ortes findet sich an den Abhängen in den Meditationshöhlen der großen Mönche.
Auf einem Plateau ergreift es uns alle. Es ist still. Die Linien der Berge und das Tal sind noch so, wie sie der Buddha gesehen hat. Hier hat er gelehrt und seine Schüler unterwiesen und ist auf ihre Fragen und Einwände eingegangen, genau hier.
Wie viele Jahre habe ich davon geträumt, auf diesem Berg zu stehen!
Von ferne grüßt der Stupa, die Grabstätte des großen Königs Ashoka, der mit der Annahme der Lehre die entscheidenden Weichen für deren Verbreitung gestellt hat.
Einige hundert Jahre später entsteht in Nalanda, auch nicht weit von Rajgir, ein gewaltiger Think Tank des Buddhismus. Hier wurden das Große und auch das Diamant-Fahrzeug weiterentwickelt und auf eine systematische, geradezu wissenschaftlich-philosophische Basis gestellt. Bis zu 10.000 Schüler studierten hier, 1.000 Lehrer unterrichteten sie. Einer von ihnen war Nagarjuna. Er lebte im 2./3. Jahrhundert und gilt vielen als bedeutendster Lehrer nach Buddha. Begriffe wie „Mitgefühl“, „Leerheit“, „Weg der Mitte“ und auch die Charakterisierung eines Bodhisattva, eines Mittlers zwischen dem Buddha und den Lebewesen, hat er entscheidend mitgeprägt.
Die große Anlage ist erfreulich gut erhalten. Es mag daran liegen, dass sie nach der Zerstörung durch muslimische Horden zum Ende des 12. Jahrhunderts für eine lange Zeit vergessen und unter einer dicken Erdschicht verborgen war.
Auch der Ort Sarnath ist von tiefer Bedeutung für unsere Spurensuche. Die Begebenheit dort ist der christlichen Geschichte von Emmaus vergleichbar. Der Christus kam zu zwei Jüngern, die zum Dorf Emmaus unterwegs waren, der Buddha ging zu den fünf Asketen im Gazellenhain, mit denen er früher dort geübt hatte. Beide Jüngergruppen konnten eine grundlegende Veränderung, eine existenzielle Verwandlung ihrer Meister wahrnehmen. Sie waren also weltweit die ersten, denen diese Wandlung zuteil wurde. Jedoch, während Emmaus bedeutungslos blieb, wurde aus Sarnath ein kraftvoller Pilgerort.
Um die weitläufige Anlage mit ehrwürdigen Stupa- und Mauerresten gruppieren sich zahlreiche Klöster aus den Buddhaländern. Für uns aber war es ein Hochgenuss, mitten auf dem Gelände das Teaching durch unsere Reiseleiterin zu erleben!
Die spirituelle Tiefe dieses Ortes lässt sich an einem etwa meterhohen Steinrelief aus dem fünften Jahrhundert festmachen, das den Buddha beim Drehen des „Rades der Lehre“ zeigt. Es befindet sich in dem kleinen Museum am Rande der Anlage.
Das Rad – es dreht sich bis heute. Buddhismus besteht nicht allein aus den Überresten der Vergangenheit. Er ist trotz vieler Verfolgungen heute noch – auch in Indien – lebendig.
Spurensuche heute
Gerade in den eben erwähnten Tempeln und Klöstern zeigt sich buddhistische Praxis in großer Vielfalt. Sie sind Orte meditativer Stille ebenso wie gleichförmiger bis lebhafter Rezitationen. Hinzu kommen die zahlreichen Pilger mit ihren vielfältigen Ritualen.
Eine Pujazeremonie in einem tibetischen Kloster vollzog sich in derartiger Wucht, dass einer unserer Reisegefährtinnen angst und bange wurde. In ungeheurem Stakkato, mitunter polyphon und immer scharf akzentuiert, wurden heilige Texte rezitiert. Man muss wirklich alle Sinne beieinander haben und mit dem Körper, dem Atem und dem Geist voll da sein, um derart schnell und präzise rezitieren zu können.
Der zentrale Aspekt buddhistischen Lebens aber ist die Praxis des Mitgefühls – für alle Lebewesen. In der Umgebung von Bodh Gaya finden sich Einrichtungen, die darauf hin ausgerichtet sind. Wir besuchten ein Gesundheitszentrum, das eine ganze Region medizinisch betreut, auch präventiv aufklärt und dazu auch auf die Dörfer fährt. Eine von uns war einen ganzen Tag lang mit dabei. Wir speisten zu Mittag in einem spirituellen Zentrum, das von Suchenden aus aller Welt angesteuert wird. In besonderer Erinnerung wird uns der Besuch eines Schulprojekts bleiben.
Auf einem freien Feld, vor den Toren von Bodh Gaya, hat ein Bikkhu-Mönch aus Thailand eine Schule errichtet. Sie ist für Kinder aus den armen Familien in der Umgebung gedacht – Bihar ist eines der ärmsten Bundesländer Indiens und die Behörden werden der Not in keiner Weise gerecht.
Wir betreten die Schule über einen schmalen dunklen Gang, dessen Wände aus lebendigen Hölzern geformt sind. Kleine Hunde jaulen uns freudig entgegen. Am Ende des Ganges erreichen wir einen Garten, der aufs Üppigste von Sträuchern, Blumen und Bäumen nur so überbordet und viele Wasserstellen aufweist. Es ist ein Paradiesgarten und auch viele Tiere tummeln sich darin. Von diesem Garten aus betritt man eine große Halle aus Holz, das ist die Schule. Die Kinder haben sich schon für uns versammelt und sitzen in ihren – durchaus mit Stolz getragenen – adretten Uniformen in Reih und Glied vor dem Podium, auf dem wir nun Platz nehmen. Auch der Mönch ist schon da, ein freundlicher älterer Herr in safrangelber Robe und ebensolcher Brille. Einige Kinder tragen Texte vor und es wird gesungen. Auch wir sprechen zu den Kindern und bedanken uns mit einem Lied.
Diese Schule ist ein großer Segen für die Kinder. Hier erwerben sie erste Fähigkeiten, um später im Alltag zu bestehen. Wir stellen uns zu einem Gruppenfoto auf und es ist uns eine Ehre, den Bikkhu dabei in unserer Mitte zu haben.
Anderntags verlassen wir Bodh Gaya und fahren mit dem Bus weit übers Land.
Die Straße
Wenn sich in Deutschland das Leben in den Gebäuden ereignet, so ist das in Indien die Straße. Warm genug ist es ja. Alle sind unterwegs und wollen, wenn sie nicht gerade einen Plausch halten, in ihrem Tempo weiterkommen. Da sind Händler und Lastenträger, Frauen in biblisch anmutenden Gewändern, Kinder beim Bettelgang oder in ihrer Schuluniform, auch Kinder, die Drachen steigen lassen oder einen Reifen mit einem Stöckchen vor sich her treiben. Wir sehen Fahrräder und Rikshaws, Überlandbusse und Ochsengespanne, schwer überladene Lastkraftautos und hin und wieder einen Ambassador, ein Auto mit gemütlichen Rundungen und ebensolcher Innenausstattung. Kühe lassen sich stoisch vom Verkehr umtosen, Hunde laufen über die Straße, was sie nicht immer überleben. Schafe und Ziegen halten sich gerne in der Nähe der Händler auf. Die Menschen wollen alle weiter, stehen sich und anderen im Weg, es wuselt und verknäuelt sich zu höchst lebendigen Wirbeln in diesem Strom, keiner will nachgeben und muss es doch, das Recht des Stärkeren wird außer Kraft gesetzt, wenn er feststeckt, und irgendwie kommen alle voran.
Die Straße hat einen eigenen Sound. Es hupt (das vor allem) und brummt und schlurft und rattert unentwegt. Gefühlt wird dieser Sound erst wieder in Deutschland ein Ende haben, wird wieder Stille eintreten.
Die Straße in Indien ist ein Fest für die Photographen. Aber die bunten lebendigen Bilder sind trügerisch. Die Straße ist voller Staub und Dreck. Besonders in den Städten kollabiert immer öfter der Verkehr. Und in all dem Gewurl (bayerisch für: Getriebe) kommt unser kleiner Bus nur langsam, aber immerhin voran.
Schließlich erreichen wir den berühmten Ort am Gangesfluss, der wie kein anderer als Inbegriff einer indischen Stadt berühmt wurde.
Varanasi
Diese Stadt ist ein Kosmos, eine Welt für sich. Sie wird auch die Stadt der Götter genannt. Einst, so geht eine Legende, seien die Götter von einem neuen Stadtherrn ausgewiesen worden. Aber sie verzehrten sich so sehr in Sehnsucht nach ihr und den Menschen, von denen sie ja lebten, dass sie, Gottheit für Gottheit, heimlich zurückkehrten. Jetzt sind sie alle wieder da. In den verschiedensten Kultformen werden sie verehrt. Agni, das Feuer, spielt dabei eine besondere Rolle. Die Sadhus, Männer, die sich ihrem Glauben ganz hingegeben haben, bevölkern mit ihren Opfern und Ritualen die Ghats – jene Treppen, die zum Ganges hinunter führen. Sie legen viel Wert auf ein eigenes Outfit, sind bunt bemalte, verwegen gekleidete Erscheinungen. Ihre Rituale gehen mitunter weit hinein ins schmerzhaft Körperliche.
Zwei der 22 Ghats sind den Verbrennungen vorbehalten. In einer eindrucksvollen, archaisch anmutenden Zeremonie bringen Angehörige den verhüllten Leichnam zum Fluss, legen ihn ins Wasser – mancherorts wird ihm auch Wasser in den geöffneten Mund geträufelt – und tragen ihn dann zum vorbestimmten, kunstvoll aufgeschichteten Holzhaufen, in den er nun hineingeschoben wird. Der Haufen wird einige Male umrundet und dann das Holz entzündet... Schwarz ist die vorherrschende Farbe dieser düsteren Orte, aus der die Feuerstellen hervorflackern. Der Verbrennungsvorgang nimmt Stunden in Anspruch.
Die Familie des Holzhändlers ist mit ihrem Handel steinreich geworden und bewohnt einen eigenen Palast am Fluss.
Auf dem Ghat daneben hängen vier kleine Welpen an den Zitzen ihrer Hundemutter. Auch Kinder sind zu sehen, sie lassen Drachen steigen, verkaufen heißen Tee oder Blumenopfer, besonders gegen Abend, wenn die Bootsleute ihre Kähne für eine Fahrt auf dem Fluss anbieten. Händler aller Art säumen die Pfade der Pilger und der Touristen. Hier erscheint die Stadt grell und Wild, staubig und vielbevölkert. Unzählige Gläubige versammeln sich täglich im Hanuman-Tempel. Familien, Suchende, auch große Gruppen sind unterwegs und bringen an verschiedenen Stellen ihre Gaben, Rituale und Gesänge ein.
Doch Varanasi hat auch stille Quartiere. Nicht weit von den Ghats finden sich kleine enge Gassen. Kaum jemand ist unterwegs, nur Kinder tauchen hin und wieder auf und bestaunen uns still. Da und dort bewundern wir unsererseits eine besonders malerische Hausfassade. Wir besuchen einen Seidenhändler und schauen den Arbeitsvorgängen zu.
In einer größeren Gasse entdecken wir ein Haus der Mutter Theresa und gehen hinein. Hier leben die Ärmsten der Armen, alte, verwirrte und auch sterbende Frauen und Männer, etwa 100 an der Zahl. Man hat sie in elendem Zustand hergebracht. Jetzt sind sie gewaschen und tragen saubere Kleidung – allein das gibt ihnen schon einen Teil ihrer Würde zurück. Und sie haben ein Dach über dem Kopf und zu essen und zu trinken.
Es kommt zu einer ergreifenden Begegnung. Plötzlich steht da eine noch junge, durchaus hünsche Frau. Sie ist taubstumm. Sie steht vor Monique und schaut sie unverwandt an. Sie hat die Arme gesenkt und steht nur da, wehrlos und ungeschützt, und schaut und schaut, als sähe sie eine Erscheinung. Monique, auch sie wortlos, geht auf sie ein und es entsteht eine tiefe Beziehung. Sie segnet Lilly, indem sie ihr die Hand auf die Stirn legt. Dann lösen wir uns – ja auch wir, denn wir alle waren eingebunden in dieses Geschehen – voneinander. Was sich hier ereignet hat, lässt sich nicht in Worte fassen.
Am Abend vor unserer Weiterfahrt sind wir noch einmal auf dem Ganges und setzen viele kleine Lichter aus, mit denen wir unsere Wünsche verbinden.
Nicht nur von Varanasi, auch von Jigme müssen wir uns verabschieden. Er war uns ein lieber Gefährte. Er begleitet uns zum Bus, wir winken einander zu, der Bus fährt an und augenblicklich ist Jigme in der großen Menschenmenge verschwunden. Aber wohin fahren wir?
Tod und Geburt
„Alle irdischen Erscheinungen sind dem Gesetz der Vergänglichkeit unterworfen“, sagte der Buddha einst. Was an ihm selbst irdische Erscheinung war, verabschiedete sich von seinen Schülern, mutmaßlich um 483 v.C., in Kushinagar.
Zwei weiße Gebäude stehen heute im spirituellen Zentrum des Ortes. Da ist einmal der Stupa, der noch sterbliche Überreste des Ehrwürdigen enthalten soll und zum Schutz von einer Betonhülle ummantelt ist. Daneben steht der Nirvana-Tempel, in dem sich nichts weiter befindet als eine über 1.500 Jahre alte Skulptur des Dahingeschiedenen, in Seitenlage, von etwa sechs Metern Länge. Der Pilger kann beim Umrunden der Figur auf sie herabschauen. Dies vermittelt in ergreifender Weise, wie den Hinterbliebenen damals wohl zumute war in ihrer tiefen Trauer um ihn. Verschiedenes wird berichtet: vom schmerzvollen Aufschrei und Zusammenbruch des Ananda bis zur stillen Beherrschung des Anuruddha.
Die Skulptur wird von anreisenden Pilgergruppen als Zeichen der Verehrung immer wieder neu eingekleidet.
Auch an diesem Ort säumen etliche Köster von heute den Weg zu Stupa und Tempel. Sie sind eher schlicht gehalten, aber dafür umso eindrücklicher.
Mitten in der Straße finden wir ein tibetisches Lokal und lassen es uns schmecken. Nebenan steht ein Tempel aus Myanmar und dabei eine Schule. Es findet gerade eine Schulspeisung statt.
In der näheren Umgebung finden sich die Stätte der Einäscherung des Leichnams sowie eine kleine Kapelle, von der aus acht Urnen mit der Asche und den Knochenresten an verschiedene nordindische Stämme, die sie bei sich haben wollten, vetreilt wurden, und auch der Topf mit der Asche des Scheiterhaufens.
Um den Ort herum hält sich hartnäckig zäher weißer Bodennebel. Er wird als unangenehm empfunden und hat keine spirituelle Bedeutung, sondern entsteht durch die Lage des Ortes an den Ausläufern des Himalaya.
Eine eigenwillig anmutende, jedoch praktischen Erwägungen geschuldete Regie setzt Lumbini, den Geburtsort des Buddha, ans Ende dieser Reise. Aus buddhistischer Sicht ist das kein Problem. Geburt und Tod wechseln stetig einander ab, bis Nirvana erreicht ist. Der Ort liegt im heutigen Nepal. Auf dem Weg dorthin halten wir an einer unerwartet idyllischen Raststätte und stärken uns für die Weiterfahrt.
Staub und Dreck der Straße enden abrupt hinter der Grenze. Nepal empfängt uns mit sauberen und gepflegten Straßen. Die Menschen sind freundlich. Dabei ist das Land von schweren Erdbeben im April und Mai und von üblen Gängeleien des großen Nachbarn Indien schwer gebeutelt.
Mit all unseren Empfindungen und Gedanken erreichen wir den Baum, unter dem der Buddha von seiner Mutter Maya geboren wurde. Eine Woche später starb sie. Lange verweilen wir dort.
Das hätte eigentlich schon genügt. Aber natürlich wollen wir auch das Areal erkunden. Es ist so weiläufig, dass wir dazu rührend klapprige, aber fahrende Fahrräder nehmen.
Unter den vielen im Gelände verstreuten Gebäuden entdecken wir einen Tempel aus Tibet. Da finden sich ergreifende Wandbilder, die einsame Stimme eines rezitierenden Mönchs – und der hier so klassisch-typische „heilige Mief“ aus Räucherwerk und Butterlampen.
Die Heimreise verläuft fast überstürzt. Wir haben genug gesehen. Das wollen wir uns bewahren.
Resultat
Resultat? Ein erstes: Hier also hat Buddha gelebt, und hier bin ich Jigme begegnet. Das Leben des Buddha regt dazu an, sich eine eigene Anschauung zur Wirklichkeit des Lebens zu bilden. Fernab von den in Deutschland gewohnten Standards erweitert sich der Horizont durch die Wahrnehmung des Alltags und der Kultur in Indien. Mit meiner Anschauung gehe ich den Weg durchs Leben. In der Konfrontation meiner Anschauungen mit der Gestaltung des Lebens-Weges und den damit verbundenen Herausforderungen entwickelt sich ein Resultat: So sehe ich die Dinge – so aber sind sie. Gegebenenfalls muss ich meine Anschauung korrigieren. Mit dieser neuen Anschauung gehe ich dann wieder ein Stück weiter...
In der Reisegruppe waren Menschen mit ganz verschiedenen Anschauungen und Lebenserfahrungen zusammengekommen. Es war eine schöne und wichtige Erfahrung, dass wir einander so annehmen konnten, wie wir waren. Wir fanden von Beginn an zu einer angenehmen, oft heiteren Gesprächsatmosphäre, in der wir Wesentliches austauschen und auch Unangenehms mitteilen konnten, ohne einander zu verletzen.
Anschauung – Weg – Resultat – ist ein Denkmodell, das der Buddha selbst mit seinem Leben gefüllt und vollzogen hat. Erst als dieser Dreischritt verwirklicht und vollzogen war, konnte er ihn verlassen. Jeder von uns hat auf dieser Reise auf den Spuren des Buddha wertvolle Anregungen zur Sichtweise und Gestaltung des eigenen Daseins mitnehmen können – auf je unterschiedliche Weise. Für mich besonders bewegend waren die Stunden auf dem Geierberg, die Meditationen im Nipponji-Tempel und die Begegnung mit Jigme. Ich konnte ein Mehr an Klarheit gewinnen, wer ich bin und was ich folglich zu tun habe. Mit diesem erweiterten Bewusstsein setze ich meine Übungen fort.
© Max Lang
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